Die Volkswerft Stralsund und ihr Schiffbauprogramm 1961 – 1971
Die Jahre 1961 bis 1971 waren geprägt vom Bau des Fang- und Gefrierschiffes “Tropik“ und des Fang- und Gefrierschiffes „Atlantik“.
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Die Dimensionen der Werftanlagen waren der sich abzeichnenden Entwicklung neuer und größerer Fischereischiffe nicht mehr gewachsen. Schon in den frühen 1950iger Jahren begann man bei den führenden Fischereinationen mit Überlegungen, wie der Fischfang auf entfernt liegende Fangplätzen effizienter gestaltet werden kann. Der Bedarf an Fisch und an den Produkten nach seiner Be- und Verarbeitung nahm weltweit ständig zu und in Europa zeichnete sich schon damals für die angrenzenden Meeresgebiete immer mehr eine Überfischung ab. Die Notwendigkeit, auch tropische Gewässer aufzusuchen, war unvermeidlich geworden. Aktionsradius und Fangzeit vergrößern und trotzdem hochwertige Fischprodukte anzulanden, konnte nur mit einem völlig neuen Typ von Fischereischiff gelingen.
England und die Sowjetunion waren Wegbereiter für die Entwicklung des kombinierten „Fang- und Verarbeitungstrawlers“ mit mindestens 70m Länge. Die „FAIRTRY“, 1954 in Aberdeen in Dienst gestellt, und die sowjetische Puschkin-Klasse, 1955-57 bei den Kieler Howaldtswerken gebaut, waren die Prototypen dieser neuen Generation mit dem Netzhandling über eine Heckslip. Die Verschärfung der internationalen politischen Spannungen verhinderte eine Ausdehnung der Puschkin-Serie. Nach den Grundsätzen der Spezialisierung im RGW war im Sektor Schiffbau die DDR neben Polen und der UdSSR auf Fischereischiffe festgelegt. Über die Hauptverwaltung Schiffbau der DDR erhielt die Volkswerft Mitte der 1950iger Jahre den Auftrag, auf Basis einer sowjetischen Aufgabenstellung für ein modernes Fangschiff das Skizzenprojekt auszuarbeiten. Es erhielt den Namen Fang- und Gefrierschiff (FGS) „Tropik“. Schiffbauexperten der Volkswerft erhielten im Dezember 1955 im Stralsunder Hafen Gelegenheit, die „Serafimowitsch“ zu besichtigen. Das siebente Puschkin-Schiff machte auf der Fahrt von Kiel zum Heimathafen für zwei Tage hier fest und diente als Studienobjekt.
Für den Bau eines solchen Schiffes mit den Abmessungen L = 80 m und B = 13,2 m und möglicher perspektivischer Fangschiffe musste eine Erweiterung des gesamten Produktionskerns für Schiffe bis 105 m Länge und einem Stapellaufgewicht bis über 3000 to erfolgen. Schwerpunkt der Modernisierung waren eine Helling mit drei 180 m langen Baugleisen, eine Querverschiebeplattform mit 20 Gleispaaren und eine hydraulische Hebe- und Absenkanlage mit 3000 to Tragfähigkeit, später auf 3500 to erhöht. Dafür wurde das Werftgelände vor den Giebelseiten der Hallen I und VI nach Süden erweitert (sog. Ausbau Süd). Die Inbetriebnahme war für Dezember 1961 geplant, sodass der Baubeginn des ersten Schiffes in 1960 damit konform ging. Das Bauvorhaben kam nur mit vielen Schwierigkeiten und langsamer voran. Vier Schiffskörper für das neue Fang- und Gefrierschiff „Tropik“ mussten deshalb bei der Neptunwerft in Rostock gefertigt werden.
Ein TROPIK auf der Absenkanlage
Foto aus: Zeitschrift Schiffbautechnik 1965
Für das erste Schiff erfolgte sogar der komplette Bau in Rostock und die Ablieferung am 30. März 1962. Die automatische Fließstraße für den Transport der Stahlplatten vom Lager über das Richten, Entzundern und Konservieren bis in die Halle VII zum Brennen der Bauteile ging im April 1962 in Betrieb. Profilbiegemaschine für Spante und die Presse gehörten zur Ausrüstung in der Halle. Der Schnürboden befand sich in der oberen Etage. Auf der Nordseite der oberen Etage lagen die Räume des Konstruktionsbüros. Mit der Endabnahme der Absenkanlage und dem Absenken des „Tropik“ Bau-Nr. 7012 im November 1962 konnte dann der durchgängige Betrieb mit dieser innovativen Technologie aufgenommen werden.
Die Anfänge der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) auf der Werft lassen sich mit der Einführung der Lochkartentechnik auf das Jahr 1961 datieren. Ein Jahr später wurde auf dem Gelände der Berufsschule ein Rechenzentrum eingerichtet mit einem Rechner R100, der vorwiegend für Lohnrechnungen genutzt wurde. Ein wesentlicher Schritt auf diesem Gebiet war 1968 die Inbetriebnahme eines neuen Rechenzentrums auf dem Gelände der Reparaturwerft an der Ziegelstraße. Kernstück bildete die EDV-Anlage Robotron 300 des gleichnamigen Herstellers in der DDR. Produktionsplanung, Lohn- und Materialrechnungen und schiffstechnische Berechnungen für das Projektbüro konnten nunmehr effektiver ausgeführt werden, wenn auch der Datenaustausch anfangs noch manuell und mit langen Wegen erfolgte.
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Die Montage der Schiffskörper erfolgte in Sektionen, die auf kastenförmigen Kielblockträgern (KBT) abgesetzt wurden. Diese Stahlträger waren auf dem Baugleis in einem Raster entsprechend der Sektionsteilung, Schiffslänge und zulässiger Bodenbelastung aufgestellt. An die Bodenkontur des Schiffes angepasste Holzpallungen auf jedem KBT nahmen die Last auf. Zum Vertakten der Sektionen und zum Längstransport des Schiffes wurden hydraulische Stapelwagen unter die Kragarme der KBT gefahren, mit denen dieser ganze Verband (KBT und Schiffskörper) vom Baugleis abgehoben und damit zu einem rollfähigen System wurde. Die Verbindung der einzelnen Stapelwagen mit Hochdruck-Hydraulikschläuchen gewährleistete eine optimale Kraftverteilung auf den Schiffskörper und seine stabile Lage. Eine Windenanlage übernahm den Längstransport und für den Quertransport zur Absenkbühne kamen hydraulische Schub-Zug-Traktoren zum Einsatz.
Das Jahr 1961 ist nach dem Serienbau der Vorjahre ein Jahr mit einem „Mix-Programm“ aus „Tropik“, Gefrierschiff und Schwimmkran. Die Serie des „Tropik“ belief sich auf insgesamt 86 Trawler; davon 82 für die UdSSR und 4 für Bulgarien. Neubau 7086 als letztes Schiff ging als „RUSTAVI“ am 7. November 1966 an die Fischer von Jugryba in Poti am Schwarzen Meer. Nach 21 Jahren wurde der Trawler in Aliaga abgewrackt. Drei Trawler sind als Verlust bekannt, der letzte, Nb 7083 „KARTLI“, sank am 18.12. 1991 in schottischen Gewässern.
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Der VEB Fischkombinat Saßnitz erhielt mit SAS-501 „STUBNITZ“ und SAS-502 „GRANITZ“ im Januar und April 1965 zwei Kühl- und Transportschiffe, die auf der Basis des „Tropik“ für die Saßnitzer Fischer modifiziert waren. Die „STUBNITZ“ wird seit 1992 als Kulturschiff genutzt und „GRANITZ“ ging 1991 zur Verschrottung nach Aliaga.
Das Fang- und Gefrierschiff „ATLANTIK“ präsentierte die 4. Generation Fangschiff der Volkswerft. Wie schon beim „Tropik“ orientierte der DDR-Schiffbau weiterhin auf eine langfristige Bedarfsdeckung der sowjetischen Fischerei und deren großes Aufnahmevermögen an Schiffen. Das FGS „Atlantik“ stellt eine Weiterentwicklung des „Tropik“ dar mit deutlich gesteigerten Leistungsparametern. Das Schiff war sowohl für den autonomen Einsatz als auch im Flottenverband bis in tropisches Fahrtgebiet einsetzbar. In mehreren Etappen in den Jahren 1964–66 wurde das Projekt zwischen Werft, dem sowjetischen Fischereiministerium und dem Register der UdSSR bis zur Konstruktionsfreigabe verhandelt. Baubeginn von Neubau 201 fand am 5. Februar 1965 statt, Kiellegung war am 22. Juni und Absenken des Trawlers am 20. September des gleichen Jahres. Der Auftrag zum Bau dieses mit neuester Technik ausgerüsteten Schiffes führte zur Bildung eines Kooperationsverbandes „Atlantik“, in dem mit der Volkswerft von Beginn an 21 Zulieferbetriebe von Hauptkomponenten zusammenarbeiteten. Nach mehrmonatiger Erprobungsreise vor NW Afrika wurde „ATLANTIK“/KB-7101 am 7. Juli 1966 an Sapryba, Basis Kaliningrad, übergeben.
Die gesamte Serie des Typs FVS „Atlantik“ umfasste 147 Schiffe (122 x UdSSR, 12 x Bulgarien, 8 x Rumänien, 5 x Kuba) und lief am 30. November 1972 mit Neubau 347 „TIMOFEY GORNOV“/KB-7234 aus. Einsatzerfahrungen mit den ersten 50 Trawlern führten zur Überarbeitung des Projektes ab NB 251 und zur Bezeichnung „Atlantik II“.
Die von der Volkswerft entwickelte Wechselnetzfischerei kam ab NB 282 zur Anwendung. Ab NB 292 fand eine Umstellung der Kurrleinenwinden vom elektrischen auf hydraulischen Antrieb statt und neue Schlacht- und Filetierlinien verbesserten die Qualität der Fischprodukte. Das VOSTRA-Ruder (Aktivruder) gehörte seit „Tropik“ bereits zum Standard.
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Als Modifikationen dieses Typs wurden die Varianten Fischerei-Forschungsschiff (FFS) und Fischerei-Schulschiff (FSS) konzipiert. Ein auf der Frühjahrsmesse 1970 in Leipzig gezeichneter Vertrag sicherte den Bau von sieben FFS zwischen Dezember 1971 und April 1972 und sieben FSS zwischen März und Juli 1973.
Atlantiks am Ausrüstungskai
Foto aus: Zeitschrift Schiffbautechnik 1967
Ein Atlantik auf dem Weg zur Fischereiausstellung in London
(Titelblatt der Zeitschrift SEEWIRTSCHAFT)
Bis zur Fertigstellung der Halle 10 (Großsektionsbau und Schiffsmontage) Mitte 1973 fanden die Arbeiten noch unter freiem Himmel auf der Helling statt. Der Name „Atlantik“ als eingetragenes Warenzeichen wurde zum Markenzeichen der nachfolgenden Fischereischiff-Generationen der Werft bis zum „Atlantik 488“.
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International machte der „Atlantik“ auf sich aufmerksam als Ausstellungsschiff (NB 261/ФB-7161 „SOLOTOI KOLOS“) im Mai 1969 in London auf der Welt-Fischereiausstellung. Das Foto mit der Fahrt des Schiffes durch die Tower Bridge war weithin als Werbe-träger bekannt geworden. Im Jahr vorher wurde NB 239/ФB-7139 „PJATIGORSK“ der Öffentlichkeit in Leningrad im August 68 auf der „Inrybprom-68“ vorgestellt.
Von der MTW-Werft Wismar wurden noch 24 weitere „Atlantik“ von 1974-76 gebaut, da die Volkswerft mit der Vorbereitung des Atlantik-Supertrawlers ausgelastet war. Sechs „Atlantik“ sind havariert und gesunken (NB 220, 226, 277, 301, 302 und 313). Einige wenige Schiffe waren noch bis Anfang der 2000ender Jahre in Fahrt wie z. B. in Belize, Komoren oder auch St. Vicent & Grenadines.
Gesellschaftlich relevante und betriebsgeschichtliche Ereignisse der Periode 1961 - 1971:
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18.04.1962 - Inbetriebnahme der Schiffshebe- und Absenkanlage, endgültige Abnahme 15. November 62 (Bauausführung: VEB Leipziger Stahlbau)
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18.04.1962 - erste automatische Fließstraße in Halle VII angestoßen
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10.07.1963 - Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR besucht die Werft
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15.02.1964 - Kiellegung des KTS “Stubnitz“
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08.07.1966 - der erste „Atlantik“ (Nullschiff) wird abgeliefert
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01.01.1968 - Anschluß des VEB Maschinen- und Apparatebau an die Volkswerft
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1968 - der Rohrbau wurde mit der Verzinkerei modernisiert
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1969 - 30 FGS “Atlantik“ wurden abgeliefert
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Baubeginn für das Hochhaus (FOZ);
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Brennschneidanlage mit 4 Plasmaschneidbrennern geht in Betrieb
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25.02.1970 - Baubeginn des FVS “Atlantik-Supertrawler“ NB 401
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16.03.1970 - Kiellegung NB 401
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18.10.1970 - der 100. „Atlantik“ („ARGUN“/KB-7198) wird abgeliefert
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01.01.1971 - die Betriebe Medizintechnik Trassenheide (jetzt VOSTRA Trassenheide)die Bootswerft Greifswald (jetzt FRG) und die Metallbearbeitung Greifswald (jetzt FSG) werden der Volkswerft angeschlossen
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03.01.1971 - Absenken des ersten Supertrawlers NB 401
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Feb.1971 - Grundsteinlegung der Halle 10 (Großsektionsbau/Schiffsmontage)
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Mit höchsten staatlichen Auszeichnungen der DDR wurden der Betrieb als auch Arbeitsgruppen und Einzelpersonen ausgezeichnet. „Banner der Arbeit“ gab es 1964 für die Werft. Nationalpreise Klasse I und II, Vaterländische Verdienstorden und Verdienstmedaillen der DDR gingen verschiedentlich an Mitarbeiter der Werft.